Während des langen Lockdowns hat Anna Hinsberg, damals Klasse 9c , sich Gedanken gemacht über den Gedanken und dazu einen Essay verfasst. Da sie für die Teilnahme am Essaywettbewerb leider zu jung war, soll sie hier die Möglichkeit bekommen, ihre Gedanken über die Gedanken mit anderen teilen zu können. Viel Freude beim Lesen und Nachdenken!
Anna Hinsberg
Was ist ein Gedanke?
Auf meinem schwarzen T-Shirt, das ich trage (ich habe es aus dem Schrank meines Vaters), lese ich in weißen Buchstaben: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ (Ludwig Wittgenstein). Ich weiß nicht, was der Satz genau meint. Ich weiß und denke, dass Sprache unsere Wahrnehmungen verändern und eingrenzen kann. Da ich dieses und jenes Wort kenne und benutze, nehme ich wahr, was es benennt. Wir können nicht unabhängig von Begriffen denken, da wir in Begriffen denken und begreifen. Meine Sprache ist die Grenze meines Denkhorizontes. Denkhorizonte, meine Welt, sind der Ausgangspunkt meines Gedankens.
Was ist ein Gedanke? Ein Gedanke ist das, was bei uns im Kopf dauerhaft beständig ist. Dabei muss er gar nicht stets präsent oder bewusst sein. Die Tätigkeit des Denkens selbst können wir oft nicht aktiv beeinflussen. Manchmal sucht der Kopf suchende Antworten auf unbewusste Fragen. Gedanken sind manchmal wie ein schöner, angenehmer, gelöster oder ein aufregender, beunruhigender, bedrohlicher Hintergrundklang, den man nicht wahrnimmt, da man ihn irgendwann ausblendet. Jeder Gedanke ist wie ein Buch in einer Bibliothek, sodass man jederzeit eines der Bücher wählen und aufschlagen kann, um darin zu blättern und zu lesen: Das endlose Gedächtnis der gedachten Gedanken. Manche Gedankenbücher können dicker und umfassender sein als andere. Vielseitiger.
Was für eine Bibliothek? Das Gedächtnis scheint endlos zu sein. Können Gedanken ein Ende finden? Ist die Kapazität eines Gedächtnisses begrenzt? Vielleicht können gedachte Gedanken durch denkende Gedanken ersetzt werden.
Was ist ein Gedanke? Ich weiß es nicht. Ein Gedanke ist immer individuell, denke ich. Er wird durch den Denkenden gesteuert. Er wird durch denkende Denkhorizonte meines Gedächtnisses, meiner Welt, gesteuert:
Wahrnehmungen, Gefühle, Beziehungen, Phantasie, Sprache und Sinne schränken Gedanken ein oder verschränken und erweitern sie, lassen sie wachsen. Jeder dieser einzelnen und eigenen Horizonte verändert sich von Mal zu Mal und von Mensch zu Mensch. Immer wenn einer dieser einzelnen eigenen Horizonte sich erweitert, wächst jeder einzelne eigene Gedanke mit. Oft denke ich nicht mal in vollständigen und ganzen Sätzen. Ich mache mir Vorstellungen von abstrakten Begriffen. Man denkt dann nicht in Sprache, denn die Sprache benennt ein Bild, aber man denkt in Bildern und Sprache zugleich. Gedanken sind nur in meinem Kopf real. Real im Moment des ständigen Denkens.
Kennst du den Gedankenstrich? Der Gedankenstrich ist das Zeichen der Pause, das Zeichen des Gedankens. Gedanken benötigen Stille. Die stille Weite des Raums. Gedanken erfordern immerzu Platz und Zeit. Gedanken wachsen mit der Zeit. Gedanken wachsen durch Zeit. Durch die Ausweitung meiner Welt, die ihren Raum und ihre Zeit beansprucht und erfüllt. Sind Gedanken frei? Gedanken sind begrenzt. Menschen bauen sich oft eine imaginäre Mauer um ihre Gedanken herum. Menschen erweitern diese Gedanken-Mauern. Menschen brechen diese Gedanken-Mauern, durch Entfaltung, Ausbau, Ausweitung ihrer scheinbar endlosen Denkhorizonte, durch Entfaltung, Ausbau, Ausweitung ihrer
Welt. Wenn man nichts sehen könnte, würde man vielleicht in Geräuschen und Musik denken. Man würde in Sprache und Stimme denken. Wenn man nichts hören könnte, würde man in Bildern, in Vorstellungen denken, in ausgemalten Geschichten.
Und, kannst du steuern was du denkst? Die Gedanken sind nur vielleicht frei. Anders als Bücher, die du wählst, durchblätterst, liest, können Gedanken-Bücher ebenfalls zu dir kommen, in Gedanken, ohne Kontrolle oder deinem Willen. Wie würde man denken, wenn man weder sehen noch hören könnte? Würde ich in Berührungen denken, mit dem Spüren? Aber könnte man weder hören, sehen, schmecken, riechen oder fühlen, könnte man nicht denken. Könnte ich überhaupt existieren? Ich denke: „Ich denke, also bin ich.“
Hast du schon mal versucht, nichts zu denken? Ununterbrochen denkt man. Wenn du versuchst nichts zu denken, denkst du daran, nichts denken zu wollen. Man denkt pausenlos. Immer mit allen Sinnen. Den Sinnen der Welt des Einzelnen – viele Welten und Grenzen.
Kann ich einen Gedanken fassen? Einen Gedanken fassen würde bedeuten, eine Vorstellung zu haben, etwas zu begreifen. Dabei sind Gedanken flüchtig und nur ein Begriff einer Vorstellung. Man kann Gedanken nicht fassen. Man kann etwas begreifen. Kann man etwas begreifen, wenn es nur eine Vorstellung ist? Einen Gedanken zu fassen oder etwas zu begreifen ist, wie etwas im Sinn zu haben und zu behalten, eine Vorstellung, die Verbildlichung, die Erläuterung der Tätigkeit.
Du grenzt die vielfältige Weite deiner Gedanken ein, Gedanken grenzen die Weiten der Vielfältigkeit ein. Gedanken beeinflussen dich, dich als Menschen. Hat ein Gedanke dich vor einem Schritt abgehalten? Hat ein Gedanke sich, als Vorstellung, vor dich gestellt? Wie ein Stoppschild, zur Vorsicht? Die Erinnerung einer Erfahrung, als Angst? Als Einschränkung. Hat die Vorstellung des Gedankens sich vor dich gestellt, dir die offene Sicht versperrt?
Was ist ein Gedanke? Der Mensch ist sein Gedanke selbst. Die Welt des Menschen ist der Gedanke selbst. Gedanken spiegeln den Menschen und seine Welt wider, das Denken des Denkens. Gedanken können ein Gefühl sein. Das Denken des Denkens ist aber kein Teufelskreis, wenn du deine Gedanken kreisen und verflechten lässt, wie eine Gedankenkarussell. Der Mensch handelt durch und mit Gedanken und Gedachtem. Der Mensch teilt seine wissenden Gedanken, seine gedanklichen Vorgänge durch das Sprechen. Er teilt sie mit.