Anlässlich des 133. Geburtstages unserer Namenspatronin sowie zum Tag der Menschenrechte, möchten wir an dieser Stelle eines ihrer Gedichte veröffentlichen. In einer Zeit, in der Sprache immer mehr Macht gewinnt und das Wort oft genug zur Waffe wird, erscheinen die mahnenden Verse unserer Namensgeberin bedenkenswert.
VÖLKER DER ERDE
ihr, die ihr euch mit der Kraft der unbekannten
Gestirne umwickelt wie Garnrollen,
die ihr näht und wieder auftrennt das Genähte,
die ihr in die Sprachverwirrung steigt
wie in Bienenkörbe,
um im Süßen zu stechen
und gestochen zu werden –
Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laute, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.
Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt –
und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht –
Völker der Erde,
lasset die Worte an ihrer Quelle,
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können
und mit ihrer abgewandten Seite
wie eine Maske dahinter die Nacht gähnt
die Sterne gebären helfen –
(Nelly Sachs, e. vor dem 12.11.1946)